Das Putin-Experiment: Super-Recognizer versuchen, Doppelgänger des russischen Präsidenten zu enttarnen

Manche Menschen können Gesichter vielfach besser erkennen und zuordnen als der Durchschnitt. In einem exklusiven Versuch haben die NZZ und ein Forschungs-Team der Uni Lausanne Super-Recognizern Bilder von Putin vorgelegt – mit erstaunlichem Resultat.

Daniel Gerny 7 min
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Illustration Simon Tanner / NZZ

Im März 2023 reist Präsident Wladimir Putin erstmals seit dem Einmarsch in der Ukraine in die von seiner Armee besetzten Gebiete. Der Besuch löst riesige Aufmerksamkeit aus – auch, weil die Auftritte für den auf grösstmögliche Sicherheit und Distanz bedachten Putin äusserst ungewöhnlich sind. Auf einem der Videos steuert der Staatspräsident eigenhändig ein Auto durch das nächtliche Mariupol. Auf anderen Bildern unterhält er sich ungezwungen mit Bürgerinnen und Bürgern, schüttelt Hände, schlendert durch Strassen.

Doch ist auf den Bildern wirklich Putin zu sehen? Nicht nur der ukrainische Geheimdienst stellte das infrage. Westliche Experten äusserten damals ebenfalls Zweifel, beispielsweise Michael Karl, Militärexperte bei der Bundeswehr-Denkfabrik German Institute for Defence and Strategic Studies. Es sei kaum vorstellbar, dass sich Putin, der Besucher erst nach zweiwöchiger Quarantäne empfängt, derart frei in einem Kriegsgebiet und unter vielen Menschen bewege, so argumentierten die Skeptiker.

Phänomen erst seit kurzem bekannt

Sie vermuten, dass Putin Doppelgänger einsetzt – ein Gerücht, das schon seit Jahren kursiert. Der Kreml dementiert es hartnäckig. Doch wem soll man glauben? Ein Dementi aus Russland ist nicht sehr vertrauenswürdig – und trotzdem schwingt bei der Doppelgänger-Theorie etwas Verschwörungstheoretisches mit. Für Aussenstehende ist kaum zu erkennen, ob wirklich immer das Original auftritt. Selbst Putin-Experten können letztlich nur Mutmassungen anstellen.

Es gibt jedoch eine sehr kleine Gruppe von Menschen, die in der Gesichtserkennung um ein Vielfaches besser sind als die meisten Leute: Super-Recognizer sind extrem schnell und gut darin, sich Gesichter zu merken und sie zu vergleichen. Vor allem, wenn die Verhältnisse schwierig werden, brillieren sie. Zum Beispiel, wenn Bilder unscharf sind oder aus ungünstiger Perspektive aufgenommen wurden – wie bei Putins Reisen nach Mariupol und Cherson. Sie können Gesichter auch nach Jahren wiedererkennen. Der natürliche Alterungsprozess von Gesichtern bringt sie nicht in Verlegenheit.

Noch ist nicht bekannt, weshalb die Fähigkeiten zur Gesichtserkennung so unterschiedlich ausgeprägt sind. Dass es Super-Recognizer gibt, ist erst seit etwa 15 Jahren bekannt. Und weil die Vorgehensweise des Gehirns bei der Gesichtserkennung noch immer nicht entschlüsselt ist, können die Fähigkeiten künstlich nur bedingt nachgebaut werden. Mit anderen Worten: Super-Recognizer sind Algorithmen und Gesichtserkennungssoftware in manchen Bereichen bis heute überlegen.

Eine besonders schwierige Aufgabe

Bei Polizeikorps und in Sicherheitskreisen sind Super-Recognizer deshalb derzeit ein grosses Thema. So ist bei der Stadtpolizei Winterthur seit einem Jahr ein Polizist mit diesen besonderen Fähigkeiten angestellt. Mehrere deutsche Polizeikorps arbeiten ebenfalls mit Super-Recognizern zusammen. Im deutschsprachigen Raum macht die Forschung auf diesem Gebiet gerade riesige Fortschritte. Dies dank Meike Ramon, Professorin für kognitive Neurowissenschaften an der Uni Lausanne – Europas wohl bedeutendster Forscherin auf dem Gebiet der Gesichtserkennung.

Könnten Super-Recognizer also auch das Rätsel um die Putin-Doppelgänger lösen? Gemeinsam mit Meike Ramon und Jobila Eigenmann, ebenfalls von der Uni Lausanne, hat die NZZ ein Putin-Experiment durchgeführt, mit dem Ziel, Doppelgängern des russischen Präsidenten auf die Spur zu kommen. Neun Super-Recognizer haben sich bereit erklärt, daran teilzunehmen. Deren Identität ist Ramon und ihrem Team, nicht aber der NZZ bekannt.

Sie mussten 12 Putin-Bilder so gruppieren, dass alle Bilder, auf denen nicht dieselbe Person zu sehen ist, separiert wurden. Daraus lässt sich implizit ableiten, welche Putin-Bilder die Probanden Doppelgängern zuordnen. Den Probanden wurde dabei nicht gesagt, wie die Bildauswahl zusammengestellt wurde und worauf es bei dem Test ankam. Zugriff hatten sie jedoch auf die Quellenangaben. Die Aufgabe stellte die Personen vor besondere Herausforderungen: Normalerweise geht es für Super-Recognizer um den Abgleich oder die Identifikation ganz normaler Menschen – und nicht um Personen, die so ausgewählt sind, dass sie sich möglichst ähnlich sehen.

Acht von neun Super-Recognizer sind sich einig

Weltweit ist bis jetzt kein Forscherteam bekannt, das einen solchen Versuch mit so vielen Super-Recognizern durchgeführt hat. Ramon betont dabei, dass das Experiment nicht als wissenschaftliche Untersuchung konzipiert sei. So nahmen an dem Test beispielsweise keine Personen ohne besondere Fähigkeiten teil, deren Resultate mit jenen der Super-Recognizer abgeglichen werden können. Der Versuch kann deshalb höchstens weitere Anhaltspunkte zu den immer wieder aufkeimenden Doppelgänger-Gerüchten liefern. Und es veranschaulicht, wo die Fähigkeiten von Super-Recognizern liegen – und wo sie an Grenzen stossen könnten. Was das Experiment nicht kann: beweisen oder widerlegen, dass Putin Doppelgänger einsetzt.

Bei vier der zwölf Bilder, die den Probanden gezeigt wurden, gibt es nach Einschätzung der NZZ keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass ein Doppelgänger abgebildet ist. Es handelt sich dabei um Bilder von Fernsehansprachen, aus Wikipedia oder von Anlässen im Kreml. Die acht übrigen Bilder stammen zumeist von Truppenbesuchen oder von anderen Auftritten ausserhalb des Kremls. Bei diesen wurden in den Medien und in den sozialen Netzwerken Doppelgänger-Spekulationen geäussert. Welche Bilder zu welcher Gruppe gehören, erfuhren die Probanden nicht.

Auch wenn sich die Teilnehmer bei der Beurteilung der Bilder nicht immer einig waren, sind die Resultate doch aufschlussreich:

• Die verdächtigen Auftritte in Mariupol und Cherson: Den Probanden wurden unter anderem drei Bilder der Reisen nach Mariupol und Cherson im Frühjahr 2023 vorgelegt – von jenen Auftritten also, bei denen Doppelgänger-Spekulationen besonders ins Kraut schossen. Bei allen drei Bildern sagt eine Mehrheit der neun Super-Recognizer: Hier ist nicht der echte Putin zu sehen. Bei zwei Bildern sind sich darin sogar acht von neun Teilnehmern einig. Den Super-Recognizern wurde dabei nicht mitgeteilt, dass alle drei Bilder vom Frühjahr 2023 stammen.

• Ist Putins Bad in der Menge nur ein Fake mit einem Double? Bei zwei Bildern von Putins Besuch in Dagestan rund vier Monate später sehen es die Super-Recognizer ganz ähnlich. Das Ergebnis fällt zwar nicht ganz so deutlich aus, doch immerhin sieben von neun Teilnehmenden gehen auch hier von einem Doppelgänger aus. Putins Besuch in Dagestan hatte es damals in sich: Es waren die ersten öffentlichen Auftritte des russischen Präsidenten nach dem gescheiterten Aufstand von Jewgeni Prigoschin und dessen Wagner-Truppe. Gezeigt wurden unter anderem Bilder von Putin, der ein Bad in der Menge nimmt. Alles unter Kontrolle, lautete die Botschaft nach unruhigen Tagen. Kein Wunder, dass es auch hier sofort Zweifel gab, dass der echte Putin aufgetreten sei. Glaubt man den Super-Recognizern, scheinen die Auftritte in Dagestan tatsächlich Fake gewesen zu sein.

• Der echte Putin ist verwirrt: «Doppelgänger entlarvt sich: Hier sucht verwirrter Kreml-Chef seine Uhr», meldete der «Blick» im August 2023 und publizierte dazu ein Video. Zu sehen ist Putin, der anscheinend auf seine Uhr schauen will, aber verwundert auf ein leeres Handgelenk blickt. In der nächsten Bildsequenz ist zu sehen, weshalb: Putin trägt die Uhr am rechten statt am linken Handgelenk, so wie es der echte Putin bekanntermassen schon seit langem tut. Hat sich hier also ein Doppelgänger mit einer ungeschickten Geste selber verraten? Stunden nachdem das Video publiziert worden war, wurde genau diese Theorie weltweit herumgeboten. Doch die Super-Recognizer winken ab – alle neun sind sich sicher: Hier ist der wirkliche Staatspräsident abgebildet.

Nicht nur Gesichtszüge enthalten Informationen

Interessant: Bei acht von zwölf Bildern sind sich mindestens acht von neun Probanden in der Beurteilung einig. Bei weiteren zwei Bildern stimmen immerhin sieben Teilnehmende überein. Das Bild erscheint also recht einheitlich. Bei nur gerade zwei Bildern gehen die Meinungen weit auseinander. Ebenfalls aufschlussreich ist, dass die Super-Recognizer alle Bilder, auf denen mit fast absoluter Sicherheit der echte Putin zu sehen ist, in grosser Geschlossenheit ebenfalls als authentisch einstufen. Und: Nur ein einziger der neuen Super-Recognizer glaubt in allen neun Bildern den echten Putin zu erkennen.

Doch so klar die Ergebnisse auch sind: Meike Ramon warnt davor, zu viel hineinzuinterpretieren. Erstens fehlten Vergleichswerte von Personen, die keine besonderen Fähigkeiten in der Gesichtserkennung haben. Denkbar ist nämlich, dass diese zu ähnlichen Schlüssen kommen würden. Dies unter anderem auch deshalb, weil nicht ausschliesslich das Gesicht mögliche Informationen über die Echtheit einer abgebildeten Person enthält. Auch der Kontext, in welchem das Bild aufgenommen wurde, kann informativ sein.

So strahlt ein Bild einer offiziellen Fernsehansprache eine andere Glaubwürdigkeit aus als ein unscharfes Videobild von einer nächtlichen Autofahrt. Solche Informationen können Super-Recognizer ebenso beeinflussen wie alle anderen Personen und so den Doppelgänger-Verdacht vergrössern. Zudem: Auch wenn den Probanden nicht mitgeteilt wurde, worum es beim Test ging, dürften sie es alle geahnt haben. Zu bekannt sind Putin und die Gerüchte um seine angeblichen Doppelgänger. Und gar nicht berücksichtigt wurde die Stimme: Auch sie müsste überzeugend nach Putin klingen, wenn tatsächlich Doppelgänger im Gespräch mit Bürgern zu sehen und zu hören wären.

Zweitens weiss die Forschung noch wenig darüber, wie zuverlässig Aussagen von Recognizern zu Doppelgängern und anderen ähnlich aussehenden Personen (Zwillingen) sind. Eine neue Untersuchung von Ramon deutet darauf hin, dass die Begabungen von Super-Recognizern nicht unbedingt in allen Bereichen besser ausgeprägt sind als jene von anderen Personen. Die Studie untersuchte die Fähigkeit sowohl von Zivilpersonen als auch Polizisten, inklusive Super-Recognizern, beim Erkennen sogenannter Deepfakes.

Das sind Bilder oder Videos, die mithilfe von KI erstellt oder bearbeitet wurden. Zum Beispiel so, dass Gesichter verändert sind oder dass es aussieht, als würden Personen Dinge sagen, die sie in Wirklichkeit nicht gesagt haben. Die Studie zeigt, dass Super-Recognizer die in der Studie verwendeten Deepfake-Videos weder deutlich schneller noch deutlich besser identifizieren als andere Personen. Noch sei aber ungeklärt, wie gut Super-Recognizer bei Doppelgängern abschlössen. Laut Ramon soll dies demnächst untersucht werden.

«Wir sind auch nur Menschen»

Wie viel also lässt sich aus dem Putin-Experiment wirklich ablesen? Am besten lässt sich dies anhand der Polizeiarbeit veranschaulichen: Auch dort führt die Arbeit der Super-Recognizer allein praktisch nie zum Ziel. Ihre Aussagen sind am ehesten mit denen von sehr guten Zeugen zu vergleichen. Sie erleichtern es der Polizei, zu entscheiden, wo sich weitere Abklärungen aufdrängen. Wie plausibel ist es, dass Putin in Mariupol oder Dagestan Doppelgänger auftreten liess? Und gibt es weitere Hinweise darauf, dass es genau so gewesen ist?

So erstaunlich die Übereinstimmung der Super-Recognizer bei der Beurteilung der Putin-Bilder in vielerlei Hinsicht ist: Beweiskraft haben ihre Aussagen nicht. «Wir können Hinweise geben, aber keine Belege liefern», erklärte eine Frau mit Super-Recognizer-Fähigkeiten vor einiger Zeit im Gespräch mit der NZZ: «Es ist nie ausgeschlossen, dass wir uns irren – denn wir sind auch nur Menschen.»

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