Neulich sagte der Virologe Hendrik Streeck etwas Kluges: "Das Virus ist Teil von unserem Alltag geworden, wir werden es mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht loswerden." Es ist ein Satz, den man überhören kann. Man kann aber auch über ihn nachdenken. Was soll das heißen, Sars-CoV-2 wird nicht verschwinden? Wie geht das, mit einem Virus leben? Geht die Pandemie also nie mehr vorbei, wird Welle über Welle über uns hereinbrechen? Und sollte nicht genau dagegen ein Impfstoff helfen?

Endgültige Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Um sich den Antworten zu nähern, müssen wir ganz von vorn beginnen – und zunächst verstehen, welche Bedingungen Erreger brauchen, um zu überleben und sich auszubreiten. Infektionskrankheiten entstehen, wenn ein Mikroorganismus, also ein Bakterium, ein Parasit oder wie im Falle von Covid-19 ein Virus einen Menschen befällt. Unter ihnen gibt es große Unterschiede. Da sind Erreger, die jahrelang im Erdboden überleben können – der Milzbranderreger etwa –, und solche, die immer wieder neu von Tieren auf den Menschen überspringen, dann aber mit etwas Glück und Gegenmaßnahmen wieder verschwinden, bis sie eben das nächste Mal ein menschliches Opfer finden – Ebola zum Beispiel. Die meisten Erreger aber zirkulieren, auch wenn sie tierischen Ursprungs sind, fast nur noch unter Menschen. So auch Sars-CoV-2. Das neue Coronavirus ist gekommen, um zu bleiben, für Jahre, Jahrzehnte, vielleicht gar Jahrhunderte.

Sein Nährboden ist also menschlicher Kontakt. Sars-Cov-2 wird wohl vor allem über Tröpfchen und Aerosole, feine Schwebeteilchen, übertragen. Es kann nur überleben, wenn Menschen es an andere weitergeben. Ausbrüche können nur wachsen und zu Pandemien werden, wenn genügend Menschen sich nah genug kommen.

Ein fragiles Gleichgewicht

Genauso gilt das Gegenteil: Wer dem Virus den Nährboden entziehen will, muss dafür sorgen, dass Menschen sich nicht nahe kommen. Dass das funktioniert, weiß nun jede und jeder. Die Kontaktbeschränkungen haben es gezeigt, die (gemeinsam mit anderen Maßnahmen) auf der ganzen Welt und auch in Deutschland die Ausbreitung des Virus gebremst oder – wie in Neuseeland oder Vietnam – nahezu gestoppt haben. Nach den Lockerungen fielen Deutschland und andere Länder in ein fragiles Gleichgewicht. Seit wenigen Wochen steigen die Fallzahlen in Deutschland wieder moderat an, in anderen Ländern wie Spanien sogar stark. Das Virus breitet sich wieder aus. Geht es wieder los?

Es ist, als hätten wir als Gesellschaft unser gemeinsames Kontaktkonto überzogen. Stellen wir es uns so vor: Auf ihm gibt es einen gewissen Kontostand (dazu später mehr) und jede menschliche Begegnung, jedes Familienfest, jeder Opernbesuch ist eine Abbuchung. Nicht alle nutzen dieses Konto gleichermaßen. Manche heben mehr ab als andere: Sie hegen zahlreiche Kontakte und reisen viel, während andere kaum vor die Tür gehen. Wichtig aber ist: Wir alle nutzen dasselbe Konto. Jede Bürgerin und jeder Bürger besitzt gewissermaßen eine EC-Karte dafür. Eine ungeheuerliche Vorstellung. In einer Welt, in der oft nicht einmal Paare ein gemeinsames Bankkonto (mit echtem Geld) haben wollen, müssen wir uns plötzlich mit Tausenden Menschen in unserer Nachbarschaft und Millionen Unbekannten in Deutschland ein Konto teilen. Wenn wir einigermaßen glimpflich durch diese Pandemie kommen wollen, führt an dieser Einsicht kein Weg vorbei: Wir müssen gemeinsam haushalten.

Mit dem Coronavirus zu leben, heißt also mit dem gemeinsamen Konto verantwortungsvoll umzugehen. Zu lernen, dass das Handeln jedes Einzelnen Einfluss auf alle anderen haben kann. Sich immer wieder zu fragen, wen und wie viele Menschen muss ich wirklich treffen und wo? Das eigene Verhalten immer neu an das aktuelle Infektionsgeschehen anzupassen. Dabei ist nicht alles sinnvoll, was erlaubt ist. Und es geht darum – in Zeiten eines begrenzten Saldos – als Gemeinschaft zu entscheiden, welche Kontakte wir für essenziell halten: Wie wichtig ist es uns, Schulen und Kitas zu öffnen, in denen es natürlich zu Ansteckungen kommen wird? Wie wichtig sind uns Theatervorführungen in geschlossenen Räumen? Wie wichtig ist die Anwesenheit im Büro?

Diese Einsicht ist wichtig, weil wir gerade dabei sind, ins Minus zu rutschen. Das Robert Koch-Institut (RKI) mahnte am Freitag erstmals seit dem Lockdnown wieder: "Menschenansammlungen – besonders in Innenräumen – sollten möglichst gemieden und Feiern auf den engsten Familien- und Freundeskreis beschränkt bleiben." Seit wenigen Wochen steigen die Fallzahlen des RKI wieder, ebenso die Reproduktionsrate, die angibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Der Blick auf die Fallzahlen, die das RKI täglich veröffentlicht, mag uns kein perfektes Bild des Infektionsgeschehens liefern. Aber er lässt uns unser Saldo erahnen.

Natürlich beeinflusst nicht nur unser Handeln den Kontostand. Wie hoch er ist, hängt auch davon ab, wie sehr das Virus gerade zirkuliert, davon, wie effizient die Teststrategien sind, ob die Gesundheitsämter gut besetzt sind und ob es ihnen gelingt, Infektionsketten nachzuverfolgen und Superspreading-Events ausfindig zu machen. Je mehr sinnvolle Regeln in Kraft sind, wie eine Maskenpflicht in Innenräumen, und Anweisungen dazu, wie man Büros belüftet, desto höher ist unser Saldo.