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Holocaust-Gedenken Auschwitz hilft nicht, Auschwitz zu verhindern

Weltweit ist der Autoritarismus auf dem Vormarsch, auch hierzulande trauen sich solche wieder ans Licht, die vom Holocaust nichts mehr wissen wollen. Gedenkveranstaltungen werden uns vor diesen Leuten nicht schützen.
Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Foto: KACPER PEMPEL/ REUTERS

Wer völkisch denkt, stellt sich die Geschichte seines Landes gern als erhebende Abfolge heroischer Ereignisse vor. Da gibt es Niederlagen und Siege, Rückschläge und Errungenschaften - alles kunstvoll eingewobene Motive in einem einzigen Teppich, 1000 Jahre alt und prachtvoll.

In diesem Teppich ist der Holocaust nicht einfach nur ein Fleck. Er ist ein Brandloch. Man kann den nackten Boden darunter sehen. Es ist nicht möglich, dieses Loch zu flicken oder zu verstecken. Es ist nicht möglich, dieses Loch nicht zur Kenntnis zu nehmen. Auschwitz ist. Wer Mensch ist, kann dieses Menschheitsverbrechen nicht vergessen.

Die Erinnerung an die Schoah ist als tragende Stütze in unser Gemeinwesen eingebaut. Gleich im ersten Satz des Grundgesetzes, der auf Immanuel Kant ebenso beruht wie auf Auschwitz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar".

Selfie mit der schlimmen Vergangenheit

Die Erinnerung an Auschwitz ist immer politisch. Wie lässt sie sich lebendig halten, wenn die letzten Überlebenden gestorben sind? Lässt sich Erinnerung überhaupt lebendig halten? Wie kann das Furchtbare pädagogisch fruchtbar gemacht werden? Was ist zu tun, damit "es" sich nicht wiederholt, weder hier noch sonst wo? Wie wehren wir den Anfängen? Diesen Fragen gilt die Sorge einer Gesellschaft, die Auschwitz nicht vergessen und daraus Lehren ziehen will.

Mag sein, dass die Erinnerung in Ritualen erstarrt ist. Dann macht das moderne Deutschland ein Selfie von sich selbst, mit der schlimmen, aber "bewältigten" Vergangenheit im Hintergrund.

Wieder werden in Parlamenten die Vertreter der Opfer, eloquente Überlebende oder kluge Professorinnen reden - den Nachgeborenen ins Gewissen. Im Anschluss gibt es eine traurige Sonate auf der Violine und Kränze für die Gräber. Mag sein, dass Scham über die Tat und Stolz auf ihre "Bewältigung" zusammenfallen - oder "Nie wieder Auschwitz!" zur Losung für militärische Interventionen wird.

Neu ist, dass bei diesen Reden manche Volksvertreter demonstrativ den Saal verlassen - wie zuletzt bei der Rede von Charlotte Knobloch vor dem bayerischen Landtag. Neu ist, dass Volksvertreter zur ritualisierten Kranzniederlegung "nicht willkommen" sind - wie AfD-Abgeordnete in Buchenwald.

Neu ist, dass Politiker ganz offen ihre Menschlichkeit und Vernunft zugunsten anderer Ziele zurückstellen.

Durch Gedenkstunden nicht zu erreichen

Für solche Leute ist der Holocaust einerseits eine weltweite Verschwörung mit dem Ziel, den Widerstand gegen einen als jüdisch halluzinierten Globalkapitalismus zu schwächen. Sie bezweifeln also, dass er stattgefunden hat.

Andererseits ist Auschwitz für sie genau das, was es "mal wieder" oder überhaupt einmal bräuchte, um den als jüdisch halluzinierten Globalkapitalismus zu brechen. Sie wollen, dass der Holocaust wieder stattfindet.

Wer so denkt, ist durch Gedenkstunden nicht zu erreichen, nicht durch wissenschaftliche Beweise oder Pädagogik. Wer so denkt, dem ist das Loch im Teppich so lästig, wie es die zwingenden Lehren daraus sind. Der will es nicht besser wissen. Der hätte gern die Hände frei. Der würde gern, wie der österreichische Innenminister Herbert Kickl (FPÖ), das Primat des Rechts über die Politik umkehren.

Deshalb zielen auch hierzulande die Vertreter einer "gärigen Partei" (Alexander Gauland) gern darauf, das Ereignis zu relativieren. Damit es kleiner wird, handlicher. Deshalb erklären sie das Brandloch zum "Vogelschiss". Deshalb beklagen sie einen angeblichen "Schuldkult", fordern "Ehre unseren Wehrmachtssoldaten". Oder, wie Björn Höcke, eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad".

Wer sich um 180 Grad dreht, der wendet sich ab.

Dies tut er, um sich Problemen mit den Anderen widmen zu können, wobei sich "menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden" (Björn Höcke). Hauptsache, wir werden dabei anständig geblieben sein.

Eine solche autoritäre Wende ist gerade in den Demokratien weltweit zu beobachten, von den USA über Brasilien bis Ungarn. Es ist eine Sehnsucht nach Durchgriff, unbelastet von Lehren der Vergangenheit oder Idealen wie der "Würde des Menschen". Wie verletzlich und "antastbar" diese Würde ist, hat der Holocaust gezeigt.

Wenn wir schon nicht aus Auschwitz lernen, dann vielleicht aus dem Lernen aus Auschwitz. Ethos und Moral und "Erinnerungspolitik" allein werden uns nicht gegen Totalitarismus, Antisemitismus und Rassismus absichern können.

Auschwitz hilft nicht, Auschwitz zu verhindern. Dazu braucht es mehr.

Auschwitz ist. Das Brandloch bleibt.

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