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Chemnitz Herr Maaßen, alles spricht dafür, dass das Jagdszenen-Video echt ist

Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, Jagdszene aus Chemnitz
Die Behauptung von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, es handele sich bei einem Jagdszenen-Video aus Chemnitz um "eine gezielte Fehlinformation" sorgt für Diskussionen.
© Screenshot / Twitter / AZeckenbiss. Soeren Stache / DPA
Es gebe "gute Gründe dafür", dass es sich bei einem Jagdszenen-Video aus Chemnitz um eine "gezielte Falschinformation" handele, ließ sich Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen von der "Bild"-Zeitung zitieren. Dabei sprechen fünf Indizien dafür, dass das Video echt ist.

Seine Sätze bergen Sprengstoff. Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen äußerte sich in der "Bild"-Zeitung  (Bezahlinhalt) zu den Ereignissen von Chemnitz in den vergangenen Tagen. Der Geheimdienst-Chef urteilt darin über die Vorkommnisse ähnlich wie führende AfD-Politiker oder Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU): "Die Skepsis gegenüber den Medienberichten zu rechtsextremistischen Hetzjagden in Chemnitz wird von mir geteilt. Es liegen dem Verfassungsschutz keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben", sagte Maaßen der "Bild".

Nun ist bereits viel darüber geschrieben und diskutiert worden, ab wann bei Angriffen auf Menschen von "Hetzjagd" oder "Jagdszenen" gesprochen werden kann, juristisch ist der Begriff nicht definiert. Fakt ist: In Chemnitz sind gewaltbereite Gruppen durch die Stadt gezogen und haben - vielfach durch Fotos und Videos belegt - andere Menschen bedroht und angegriffen (mehr zum umstrittenen Begriff "Hetzjagd" lesen Sie hier)

Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, Jagdszene aus Chemnitz
Die Behauptung von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, es handele sich bei einem Jagdszenen-Video aus Chemnitz um "eine gezielte Fehlinformation" sorgt für Diskussionen.
© Screenshot / Twitter / AZeckenbiss. Soeren Stache / DPA

Hans-Georg Maaßen zweifelt Echtheit an

Maaßen geht im Gespräch mit der "Bild" aber noch weiter. Er stellt öffentlich die Echtheit eines Videos, das eine solche Jagdszene zeigt, in Frage: "Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist." Und weiter: "Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord (tatsächlich ermitteln die Behörden in Sachsen nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags; Anm. d. Red.) in Chemnitz abzulenken."

Chemnitz
In der "Bild"-Zeitung wird ein Bezug von Maaßens Äußerung zu dem Vorfall auf der Chemnitzer Bahnhofstraße hergestellt
© stern

Auf welches Video sich Maaßen genau bezieht, ist unklar. Eine entsprechende Anfrage des stern ließ das Bundesamt für Verfassungsschutz unbeantwortet. In der gedruckten Ausgabe der "Bild"-Zeitung wird jedoch ein direkter Bezug zu folgender Aufnahme hergestellt, sodass davon ausgegangen wird, Maaßen meinte bei seiner Äußerung dieses Video:

Hetzjagden in Chemnitz? Video zeigt, wie Ausländer verfolgt und beleidigt werden

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00:41 min

Belege für die These, es könnte sich bei dem Video um "eine gezielte Falschinformation" handeln, liefert Deutschlands oberster Verfassungsschützer keine. Der stern fragte beim Bundesamt für Verfassungsschutz auch, welche "guten Gründe" Maaßen für seine Bewertung hat. Auch hier: keine Antwort.

Was es dagegen gibt, sind viele gute Indizien dafür, dass das Video authentisch ist:

1) Ort: Chemnitzer Bahnhofstraße

Die Szene spielt sich ohne Zweifel in der Chemnitzer Innenstadt ab, genauer in der Bahnhofstraße, wie ein Abgleich der umstehenden Wohngebäude oder der Kirche zeigt. Auch der Linienbus stammt mit seiner Aufschrift "Mit 300 PS durch Chemnitz" und der charakteristischen blau-gelben Lackierung aus der sächsischen Großstadt.

Chemnitz
Klar zu sehen: Der Häuserblock in der Theresenstraße und die Johanniskirche in Chemnitz, daneben der große Parkplatz und ein Bus in der charakteristischen blau-gelben Lackierung der Chemnitzer Verkehrs-AG
© Screenshot / Google, Screenshot / Twitter / AZeckenbiss

2) Urheber: "Antifa Zeckenbiss"

Erstmals im Internet aufgetaucht ist das Video wahrscheinlich auf dem bereits seit Februar 2018 bestehenden Twitteraccount "@AZeckenbiss". Ein Facebookkonto mit dem Namen "Antifa Zeckenbiss" (seit Oktober 2017) und ein gleichlautender Youtubekanal (seit Juli 2018) bestehen ebenfalls. Wer hinter den Accounts steckt, ist unklar, ebenso ob der Betreiber das Video selbst aufgenommen hat. Der stern bat den anonymen Betreiber der Konten um eine Stellungnahme, hat jedoch bislang keine Antwort erhalten.

"Antifa Zeckenbiss" beschäftigt sich vorwiegend mit der Sammlung von Medienberichten und Social-Media-Beiträgen zum Themenfeld Antifaschismus. Ein kurzfristiges Ins-Leben-Rufen der Konten, um die Öffentlichkeit von dem Tötungsdelikt in Chemnitz abzulenken, erscheint äußerst unwahrscheinlich.

3) Zeitpunkt

Auf Twitter hochgeladen wurde das Video am 26. August 2018 um 20.56 Uhr, was freilich wenig über den Zeitpunkt der Aufnahme aussagt. Die im Video zu sehende Wetterlage (wolkig, nicht allzu sonnig) stimmt mit jener vom 26. August 2018 überein. Dass einige der Menschen eine Jacke tragen, spricht für die am 26. August 2018 herrschende, nicht allzu warme, Temperatur (maximal 19, durchschnittlich 14 Grad Celsius). Die Schatten der Menschen fallen grob in Richtung Osten, sodass von einem Aufnahmezeitpunkt am späten Nachmittag ausgegangen werden kann. Der Sonnenuntergang in Chemnitz war am 26. August um 20.06 Uhr

Hinzu kommt: Der Journalist Johannes Grunert, der für "Zeit Online" aus Chemnitz berichtete, meldete am 26. August 2018 um 17.04 Uhr eine "Migrantenjagd" am Johannisplatz, der sich in unmittelbarer Nähe des Aufnahmeortes befindet. Möglicherweise beschrieb er damit die Szene aus dem Video.

Auf diversen Internetseiten behaupten Menschen, dass die Aufnahme aus dem vergangenen Jahr stammt. Das stimmt nicht. Die Plakatwand am Straßenrand zeigt Werbung für den "Ring der Nibelungen" - konkret für "Rheingold" - der Chemnitzer Theater. Das Plakat ist auch auf Fotoaufnahmen der Bildagentur "Getty Images" vom "Wir-sind-mehr"-Festival am vergangenen Montag in Chemnitz zu sehen. 2017 wurde der "Ring-der-Nibelungen"-Zyklus dort noch nicht beworben. Nach stern-Recherchen hängt das Plakat an dieser Stelle erst seit dem Ende der Spielzeit 2017/2018 im Juni 2018.

Chemnitz
Das Plakat auf dem Video (l.) und während des "Wir-sind-mehr"-Festivals im Chemnitz. Die Werbung hängt dort erst seit Juni
© Screenshot / Twitter / AZeckenbiss, Matthias Rietschel / Getty Images

4) Personen

Chemnitz
"Tradition statt Invasion" steht auf dem T-Shirt
© Screenshot Twitter / AZeckenbiss

Eine der Personen trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Einsiedel - Tradition statt Invasion". Einsiedel ist ein Stadtteil von Chemnitz, "Tradition statt Invasion"  eine Parole, die seit mindestens 2015 auf mehreren Demonstrationen in Sachsen gegen den Zuzug von geflüchteten Menschen verwendet wurde. Im Video ist zu hören, wie Menschen unter anderem "Haut Ab", "Ihr Kanaken", "Ihr seid nicht willkommen" und "Fotzen" brüllen.

Ein weiterer Protagonist der Szene ist das Opfer. Das Magazin "Ze.tt" beschreibt ausführlich, wie der 22-Jährige es erlebt hat, von mehreren Männern über die mehrspurige Straße gejagt worden zu sein, und hat ihn offenbar zur Polizei begleitet: "Ein Video der Antifa-Gruppe Zeckenbiss aus Chemnitz schafft es am Sonntag deutschlandweit in die Nachrichten: Darin ist zu sehen, wie ein Neonazi einen Menschen über die Straße jagt. Dieser Mensch ist Aziz." Er habe Anzeige erstattet.

Ein anderes, ebenfalls am 26. August 2018 von einem Twitternutzer hochgeladenes Video zeigt Beteiligte des ersten Videos aus einer anderen Perspektive auf der dem Tatort gegenüberliegenden Straßenseite.

5) Ermittlungen der Polizei

Die Chemnitzer Polizeipräsidentin Sonja Penzel kündigte am 27. August auf einer Pressekonferenz an, von Amts wegen Ermittlungen wegen diverser Videos einzuleiten und bezog sich dabei auch auf die nun von Maaßen mutmaßlich in Zweifel gezogene Aufnahme: "Das gilt zum Beispiel für einen Vorgang, bei dem ein Mann auf der Bahnhofstraße von einem anderen regelrecht verfolgt wird."

Fazit

Belege dafür, dass es sich bei dem von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen mutmaßlich gemeinten Video um "eine gezielte Falschinformation" handelt, gibt es nicht. Vielmehr sprechen alle Indizien dafür, dass im Sommer 2018 - mit hoher Wahrscheinlichkeit am späten Nachmittag des 26. August 2018 - auf der Chemnitzer Bahnhofstraße mindestens zwei Personen, darunter ein Afghane, von mehreren Menschen unter dem Rufen von fremdenfeindlichen Beschimpfungen gejagt wurden. Was sich vor und nach der Situation abspielte, ob es zum Beispiel Provokationen gegeben hat, ist nicht bekannt.

Sollte sich Verfassungsschutzpräsident Georg Maaßen tatsächlich auf dieses Video bezogen haben, rückt er sich mit seiner Behauptung selbst in die Nähe von Verschwörungstheoretikern, solange er seine "guten Gründe" nicht benennt. stern-Kollege Finn Rütten meint in seinem Kommentar dazu, Maaßen habe seinen Job nicht verstanden. Der Journalist Lars Wienand, der sich für "T-Online" ebenfalls intensiv mit der Prüfung der Echtheit des Videos befasst hat, nennt die Behauptung des Geheimdienstchefs schlicht "gaga".

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